Irreversibles posttraumatisches Belastungssyndrom nach miterlebten Autounfall
In diesem Fall ging es darum, dass die Klägerin bei dem von ihr miterlebten Autounfall und Tod ihres Ehemanns ein irreversibles posttraumatisches Belastungssyndrom erlitten hatte; außerdem stellten sich fortdauernde Depressionen ein. Üblicherweise gibt es in Deutschland beim Tod eines Angehörigen sehr wenig Schmerzensgeld in Form des Hinterbliebenengeldes (Angehörigenschmerzensgeld) oder wenig Schmerzensgeld, wenn ein Schockschaden vorliegt. Darunter versteht man eine über die natürliche und übliche Reaktion des Todes eines nahen Angehörigen hinausgehende „Überreaktion“.
In erster Instanz 50.000 gefordert, dann wurden Schmerzensgeld 100.000 € zugesprochen
Die Klägerin hat hier in der ersten Instanz 50.000 € eingefordert. Das ist ein Schmerzensgeldbetrag, der weit über den bisher üblichen Beträgen beim Schockschaden liegt.
Hinterbliebenengeld hat die Rechtsprechung bisher in Höhe von 3000-12.000 € zugesprochen; bei Schockschäden ist sie nur in einem einzigen besonders erschütternden Einzelfall (alle drei Kinder eines Ehepaars starben bei einem Verkehrsunfall gleichzeitig) über 25.000 € hinaus gegangen. Die Klägerin hat also einen doppelt so hohen Betrag angesetzt, wie man ihn den Rechtsprechungsübersichten (Schmerzensgeldtabellen) finden kann. Das muss man manchmal so machen, sonst entwickelt sich die Rechtsprechung nicht weiter. Das sieht man besonders an diesem Fall. Der Versicherer hat vorgerichtlich 11.000 € gezahlt. Die Klägerin hat dann mindestens 50.000 € gefordert, also mindestens weitere 39.000 €. Das Gericht hat daraufhin 89.000 € zugesprochen, also ein Schmerzensgeld von insgesamt 100.000 €. So viel ist für einen Schockschaden in Deutschland noch niemals zugesprochen worden.
Das Miterleben war ausschlaggebend
Das Oberlandesgericht hat die Erwägungen des Landgerichts bestätigt. Das Gericht hat berücksichtigt, dass nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs die Höhe des Schockschadens auch danach zu bemessen ist, ob der Geschädigte den Tod des Angehörigen mit eigenen Augen miterlebt hat oder ob ihm „nur“ die Nachricht des Todes überbracht worden ist.
In diesem Fall fuhr die Klägerin mit ihrem Auto vor ihrem auf dem Motorrad fahrenden Ehemann auf der Autobahn. Sie hörte „ein entsetzliches Krachen und Knirschen“. Da sie ihren Mann nicht mehr sehen konnte, hielt sie auf dem Seitenstreifen und lief auf der Autobahn zurück. Dort stand ein großer Sattelzug. Dahinter stand ein Sprinter, in dessen Frontpartie das Motorrad des Ehemannes steckte. Er selbst war nicht zu sehen. Zu Dritt suchten die drei Fahrer die Autobahn ab; dabei fand die Klägerin einen Schuh und einen Talisman ihres Mannes. Der Fahrer des Lkw kam auf die Idee, unter dem Sattelschlepper nach zu sehen. Dort entdeckte er den eingeklemmten Ehemann. Die Klägerin kroch unter den Lkw zu ihrem stark blutenden leblosen Mann, nahm dessen Hand und versucht vergeblich, Kontakt mit ihm aufzunehmen. Nach dem Eintreffen der Rettungskräfte sah sie noch, wie bei ihrem Mann ein EKG gemacht wurde, dass eine Nulllinie anzeigte.
Die Klägerin ist massiv beeinträchtigt
In den zwölf Jahren seit dem Unfall hat sie sich zahlreichen ambulanten und stationären psychiatrischen Behandlungen unterzogen. Sie nimmt nach wie vor Medikamente. Sie hat Angst vor dem Autofahren, den früheren Hobbys wie Gartenarbeit und Skilanglauf kann sie nicht mehr nachgehen. Die beiden Kleinkinder der Klägerin waren zum Unfallzeitpunkt erst zweieinhalb Jahre und sechs Monate alt. Sie hat diese aufgrund ihrer psychischen Beeinträchtigungen alsbald als enorme Belastung empfunden und sich emotional von ihnen gelöst. Die fehlenden Empfindungen gegenüber ihren Töchtern und der mangelhafte soziale Kontakt zu ihnen hat sie zusätzlich außerordentlich beeinträchtigt. Die Kinder sind dann von der Großmutter und der Stiefmutter betreut worden, die das Sorgerecht übernahmen und die Mädchen aufzogen.
Seit dem Unfall hat die Klägerin auch Suizidgedanken und nahm selbst zerstörerische Handlungen an sich vor (Ritzen). Am Ende wohnt sie in einer Einrichtung für betreutes Einzelwohnen und hat eine kleine Beschäftigung. Soziale Kontakte hat sie kaum. Ihr vormals großer Freundeskreis hat sich auf eine Freundin reduziert. Der Kontakt zu ihren Schwestern brach ab. Sie hat auch heute noch fast täglich die Bilder von dem Unfall vor Augen und träumt oft vom Tod und Sterben.
Die erlittenen Lebensbeeinträchtigungen sind enorm
Das Gericht sagt zu Recht, dass das Landgericht den Schmerzensgeldbetrag nicht unangemessen hoch angesetzt hat, so wie der Versicherer im Berufungsverfahren meinte. Dabei stellte das OLG auf folgende, vollkommen nachvollziehbare Überlegung an: rechnet man die insgesamt 100.000 € auf die vergangenen zwölf Jahre um, beträgt das Schmerzensgeld nicht einmal 8500 € pro Jahr.
Man kann auch über die Überlegung des Gerichts hinausgehen und die Schmerzensgeldsumme auf den Tag genau berechnen. Dann ergibt sich: zwölf Jahre ergeben 4380 Tage. Somit ergibt sich ein Tagesbetrag von 22,38 €. Dabei ist auch noch zu berücksichtigen, dass dieser Betrag ja vom Gericht für die Abgeltung des lebenslänglichen immateriellen Schadens angesetzt wird, also für über 50 Jahre! Dann sind es nur 5,50 Euro, also ein Betrag, der nicht im Ansatz das Leid und die Lebensbeeinträchtigungen auszugleichen vermag.
„Gerichte dürfen nach eigenem Ermessen weit über den eingeforderten Mindestbetrag des Schmerzensgeldes hinausgehen“, sagt Rechtsanwalt und Fachanwalt für Verkehrsrecht Rouven Walter, „leider geschieht das nur selten!“
Das vollständige Urteil des Oberlandesgerichts Frankfurt vom 6. September 2017 – 6 U 216 / 16 können Sie hier als PDF (40 KB) herunterladen:
OLG Frankfurt, Urteil vom 06.09.2017 – 6 U 216/16