OLG Karlsruhe, Urteil vom 28. April 2017 – 9 U 189/15: Die abrupte Bremsung des vorausfahrenden Fahrzeugs ohne festgestellten äußeren Anlass ändert bei einem Auffahrunfall grundsätzlich nichts an einem im Wege des Anscheinsbeweises festzustellenden schuldhaften Verkehrsverstoß des Hintermanns zu 100 Prozent, mehr
Bei einem Verkehrsunfall bremste der Vorausfahrende grundlos, so behauptete der Auffahrende; der Vordermann sagte, er habe zugunsten einer Fußgängerin gebremst. Das Oberlandesgericht in Karlsruhe hat die Schuld an diesem Unfall mit einer Quote von 100 Prozent dem Auffahrenden zugewiesen. Entweder nämlich habe er keinen ausreichenden Sicherheitsabstand eingehalten oder aber er habe zu spät reagiert. Beides führe zur Haftung, für beides hat das Gericht den Beweis des ersten Anscheins angenommen. Der Anscheinsbeweis greift bei typischen Geschensabläufen. Es gilt nach der Lebenserfahrung die Grundregel, dass den Auffahrenden die Schuld an einem Unfall trifft. In dem hier entschiedenen Fall konnte vom Gericht nicht geklärt werden, ob tatsächlich eine Fußgängerin Ursache des Bremsens gewesen ist. Dieses Patt geht zu Lasten des Auffahrenden. Er kann zwar den Beweis erschüttern, indem er einen Gegenbeweis antritt. Er muss dann aber den Beweis auch führen. Bleibt der Sachverhalt unklar, verbleiben Anscheinsbeweis und damit auch Haftung beim Auffahrenden.
Der Punkt ist: Derjenige, der mit dem Beweis des ersten Anscheins belastet ist, hat es schwer. Er muss die durch den Anscheinsbeweis gegen ihn gerichtete Vermutung des Verschuldens entkräften. Die Anforderungen zur Erschütterung des Anscheinsbeweises sind hoch. In einer von mir besprochenen höchstrichterlichen Entscheidung hat der Bundesgerichtshof einer auf der Autobahn auf einen Kleinlaster aufgefahrenen Motorradfahrerin die Erschütterung des Anscheinsbeweises mit der Behauptung dieser habe „brutal gebremst“ wegen Unaufklärbarkeit nicht zugebilligt.
„Der Senat des Oberlandesgerichts Karlsruhe hat noch einen anderen für Verkehrsunfallverfahren wesentlichen Aspekt auf den Punkt gebracht“, sagt Rechtsanwalt und Fachanwalt für Verkehrsrecht Rouven Walter: „Es ist für Zeugen nach einem plötzlichen und unerwarteten Geschehen wie einem Verkehrsunfall generell schwierig, nachträglich sicher zu unterscheiden, welche Details ihrer Erinnerung auf tatsächlicher Beobachtung beruhen, und welche Details sich aus unbewussten Rückschlüssen ergeben haben.“
Das vollständige Urteil des Oberlandesgerichts Karlsruhe, Urteil vom 28. April 2017 – 9 U 189/15 können Sie hier als PDF (104 KB) herunterladen: