Das Gericht muss im Arzthaftungsprozess den Sachverhalt selbstständig ermitteln

„In Arzthaftungsprozessen besteht ein Ungleichgewicht. Der Patient steht als Kläger dem medizinischen Sachverhalt als Laie gegenüber, das beklagte Krankenhaus oder der Arzt verfügen hingegen über entsprechende Sachkunde“, sagt Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht Dr. Lovis Wambach.

Diesem Ungleichgewicht hat die höchstrichterliche Rechtsprechung bereits vor langer Zeit Rechnung getragen. Der Bundesgerichtshof (BGH) vertritt in ständiger Rechtsprechung die Auffassung, dass an die Darlegungen des Patienten zu medizinischen Fragestellungen nur maßvolle Anforderungen zu stellen sind. Lücken im Vortrag des Patienten von Amts wegen zu ermitteln sind. Diese Grundsätze sind durch ein Urteil des BGH nochmals bestätigt worden. In dem Fall ging es um einen Geburtsschaden. Das Kind ist mit einem Notfallkaiserschnitt auf die Welt gekommen und musste mangels Atmung wiederbelebt werden. Das Mädchen hat aufgrund Sauerstoffunterverorgung schwere hirnorganische Schäden davongetragen. Vertreten durch die Eltern macht es Schadensersatz- und Schmerzensgeldansprüche gegen den Krankenhausträger geltend.

Als Ursache für die Komplikationen bei der Geburt hat der Gerichtssachverständige eine Gebärmutterzerreißung angenommen. Bei einer Uterusruptur fällt die kindliche Herzfrequenz ab und die Wehentätigkeit hört schlagartig auf. Die Patientin hat ein Gefühl des innerlichen Zerreißens. Durch den Blutverlust kommt es zu Schockanzeichen (blasse, kalte und kaltschweißige Haut, zunehmende Bewusstseinseintrübung). Zur Therapie gemäß den Facharztstandards (§ 630a Abs. 2 BGB) gehört eine sofortige Hemmung der Wehentätigkeit und eine notfallmäßige Schnittentbindung.

Nicht geklärt worden ist von den Gerichten, ob die Schäden nicht bei der Geburt, sondern schon vor der Geburt eingetreten sein könnten. In Betracht kam hier insbesondere eine Schädigung der Plazenta (Mutterkuchen) als Schadensursache. Zur Feststellung der Kausalität spielte auch ein umstrittener pH-Wert eine Rolle. Der Bundesgerichtshof beanstandet als Rechtsinstanz, dass die beiden Tatsacheninstanzen (Landgericht und Oberlandesgericht) dieser Frage nicht nachgegangen sind. Dazu wären sie nämlich verpflichtet gewesen.

Wörtlich heißt es:
„Den Widerspruch zwischen den im Einklang mit den Behandlungsunterlagen stehenden Ausführungen des Sachverständigen im schriftlichen Gutachten und seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung, wonach der pH-Wert der Klägerin niedrig gewesen sei, hätten sowohl das Landgericht als auch das Berufungsgericht von Amts wegen erkennen und bei der Beurteilung der Kausalitätsfrage berücksichtigen müssen. Denn der Tatrichter ist verpflichtet, den ihm zur Entscheidung unterbreiteten Sachverhalt auszuschöpfen und sämtlichen Unklarheiten, Zweifeln oder Widersprüchen von Amts wegen nachzugehen.“

Nach Auffassung des BGH ist eine Partei auch nicht verpflichtet, ein gerichtliches Sachverständigengutachten sofort mit einem Privatgutachten anzugreifen. Dies kann auch noch in der Berufungsinstanz geschehen.

Der Bundesgerichtshof hat den Rechtsstreit wieder an das Oberlandesgericht zurückverwiesen. Dieses hat dann nach Maßgabe des BGH die aufgeworfenen Fragen zu klären.

Das vollständige Urteil des Bundesgerichtshofs können Sie hier als PDF (128 KB) herunterladen:

BGH, Beschluss vom 16.06.2015 – V I  Z R  3 3 2 / 1 4

 

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