Der Sachverhalt – Sturz mit Mountainbike in Stacheldraht
Der geschädigte Marineoffizier unternahm mit seinem Mountainbike eine Radtour. Er bog in einen zu der beklagten Gemeinde gehörenden unbefestigten Feldweg ab, der als Sackgasse in einem Waldstück endete. Nach 50 m befand sich auf dem Feldweg eine Absperrung. Diese bestand aus zwei in der Mitte des Weges befindlichen vertikal nach unten und auf den Boden gerichteten Holzlatten auf den das Verkehrszeichen 260 „Verbot für Kraftfahrzeuge“ befestigt war.
Es wurde durch zwei waagerecht verlaufende Stacheldrähte in Höhe von etwa 60 und 90 cm gehalten. Diese waren an Holzpfosten befestigt. An einem der seitlich aufgestellten Pfosten konnten die Stacheldrähte gelöst werden, um die Absperrung zu öffnen.
Als der Geschädigte die gespannten Stacheldrähte bemerkte, konnte er trotz Vollbremsung sein Fahrrad nicht rechtzeitig vor der Absperrung zum Halten bringen und stürzte kopfüber in das Hindernis. Dort blieb er mit seiner Kleidung hängen und konnte sich nicht mehr bewegen. Nach Stunden wurde er gefunden. Durch den Sturz erlitt er einen Bruch des Halswirbels und eine hohe vollständige Querschnittlähmung. Deshalb ist er dauerhaft hochgradig pflegebedürftig und bedarf lebenslang weiterer Behandlungen.
Der Soldat schied aus dem Dienstverhältnis aus. Seitdem ist er Versorgungsempfänger. Der Unfall wurde als Dienstunfall anerkannt.
Die Parteien – Bundesrepublik gegen Gemeinde
Klägerin ist in dem Fall die Bundesrepublik Deutschland. Sie macht die bis zum Dienstaustritt angelaufenen Ausgleichszahlungen, an den Geschädigten gezahlte Versorgungsbezüge, Behandlungskosten, Kostenerstattungen für Heil- und Hilfsmittel, sowie von Behandlungen und Pflegeleistungen geltend. Beklagte ist die Gemeinde als Eigentümerin des Feldweges, beklagt werden in dem Verfahren auch die beiden Jagdpächter.
Die Urteile auf dem Weg zum BGH
Vollkommen unverständlicherweise hat das Landgericht Lübeck die Klage insgesamt abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, dass keine Verletzung von Verkehrssicherungspflichten durch die Beklagten vorläge. Der Feldweg, auf dem sich der Unfall ereignete, habe keinerlei öffentliche Verkehrsbedeutung gehabt und diente lediglich als Zuwegung zu privaten Zwecken. Die Benutzung eines solchen Weges erfordere besondere Aufmerksamkeit. Die Gefahrenstelle sei frühzeitig erkennbar gewesen. Auch die Stacheldrähte seien durch das Schild in der Mitte hinreichend erkennbar gewesen. Der Verletzte sei entweder zu schnell gefahren oder habe nicht die notwendige Aufmerksamkeit aufgebracht.
Die Klägerin ging daraufhin in Berufung. Das Berufungsgericht hat immerhin die Verpflichtung zum Schadensersatz festgestellt. Allerdings hat es angenommen, dass der Geschädigte ein Mitverschuldensanteil in Höhe von 75 Prozent zu tragen hat, also nur mit 25 Prozent seines Schadens durchdringen kann.
Alle Parteien gingen gegen dieses Urteil in die Revision.
Die Verletzung von Verkehrssicherungspflichten
Derjenige, der eine Gefahrenquelle schafft, muss dafür haften (Verkehrssicherungspflicht).
Das Berufungsgericht hatte festgestellt, dass die Drahtabsperrung „ungewöhnlich“ war und bejahte einen Verstoß gegen die Verkehrssicherungspflichten. Das hat der BGH im Ergebnis gebilligt. Ein quer über einen für die Nutzung durch Radfahrer zugelassenen Weg gespannter, nicht auffällig gekennzeichneter doppelter Stacheldraht sei im wörtlichen wie auch im rechtlichen Sinne verkehrswidrig. Ein solches Hindernis sei angesichts seiner schweren Erkennbarkeit und aufgrund der aus seiner Beschaffenheit (Stacheldraht) folgenden Gefährlichkeit völlig ungewöhnlich und objektiv geradezu als tückisch anzusehen, sodass ein Fahrradfahrer damit nicht rechnen muss.
Das Mitverschulden und seine Quote
Das Berufungsgericht hat angenommen, dass den Fahrradfahrer die überwiegende Schuld an dem Schaden trifft. Der BGH hat ausgeführt, dass bei der Abwägung der Verantwortlichkeiten hinsichtlich des Verschuldens ein Richter einen weiten Entscheidungsspielraum hat. Er darf aber nicht gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze verstoßen. Genau das war hier aber der Fall.
Zwar muss ein Fahrradfahrer „auf Sicht fahren“, jedoch muss er sich nicht auf Hindernisse einstellen, mit denen er unter keinen vertretbaren Gesichtspunkten rechnen muss. Andernfalls dürfte sich ein Radfahrer stets nur mit einem minimalen Tempo bewegen. Erkennbar war für den Geschädigten alleine das Verkehrsschild. Das Verbot der Durchfahrt für Kraftfahrzeuge suggerierte also einem Radfahrer, er könnte weiterfahren. In der Kombination mit den Stacheldrähten ergab sich für den Bundesgerichtshof eine geradezu tückische Gefahrenquelle. (Eine größere Diskrepanz zu der Urteilsbegründung des Landgerichts ist kaum denkbar. Lesen Sie oben noch mal nach).
Der Bundesgerichtshof sah als einziges mögliches anspruchsminderndes Mitverschulden des Geschädigten, dass er statt einer normalen Fahrradpedale auf einem holprigen Feldweg die sogenannte Klickpedale benutzte. (Bei einer Klickpedale rastet der Fahrradfahrer mit einem Spezialschuh in die Pedale ein). Wenn in der Benutzung der Spezialpedale ein Mitverschulden zu erblicken sein sollte, dann käme dafür allenfalls eine Anspruchsminderung von einem Viertel (25 Prozent) infrage, also eine Haftungsverteilung genau umgekehrt, wie sie das Berufungsgericht angenommen hat.
Wie geht es weiter?
Der BGH hat über die Frage der Klickpedale keine eigene Entscheidung getroffen, sondern den Rechtsstreit an das Berufungsgericht zurückverwiesen. Dieses muss nun unter den Vorgaben des BGH klären, ob überhaupt ein Mitverschulden in Betracht kommt und wenn ja, wie hoch dies sein könnte. Der BGH hat nur die Obergrenze von 25 Prozent vorgegeben. Es könnten auch 10,15 oder 20 Prozent sein.
Im Übrigen ist ein Mitverschulden meines Erachtens fraglich. Klickpedale bringen auch Vorteile. Mit ihnen rutscht man nicht zu leicht vom Pedal ab. Ein ruckartiges Abrutschen kann nämlich gleichfalls zu Unfällen führen. Das wird das Oberlandesgericht ganz genau zu prüfen haben. Im Zweifelsfall wird der Rechtsstreit wieder zum Bundesgerichtshof gelangen.
„Die Verteilung des Mitverschuldens durch das Berufungsgericht (OLG Schleswig) ist nicht nur rechtsfehlerhaft, wie der Bundesgerichtshof meint, sondern verstößt schlichtweg gegen den gesunden Menschenverstand!“, sagt Patientenanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht Dr. Lovis Wambach.
Das vollständige Urteil des Bundesgerichtshofs vom 23. April 2020 – III ZR 52 /17 können Sie hier als PDF-Datei (228 KB) herunterladen:
BGH, Urteil vom 23.4.2020 – III ZR 52 /17
Mittlerweile liegt auch das Urteil für das Verfahren des geschädigten Marineoffiziers selbst vor. Es ist in den entscheidenden Passagen identisch. Der Vollständigkeit halber halten wir es hier gleichfalls zum Download bereit: