In diesem vom Bundesgerichtshof (nicht vom Arzthaftungssenat) entschiedenen Fall ging es um die Haftung des Anbieters eines Hausnotrufvertrages. Den Prozess führten die Erben, des im Prozess verstorbenen Kunden. Der Verstorbene hatte einen Hausnotrufvertrag abgeschlossen. Dort war einerseits geregelt, dass das Hausnotrufgerät an eine ständig besetzte Zentrale angeschlossen ist und von dort aus sollte unverzüglich eine angemessene Hilfeleistung erfolgen; anderseits war dem Vertrag ein Erhebungsbogen beigefügt, aus dem sich ergab, dass der Kunde schwer krank war: Unter anderem litt er an Herzrhythmusstörungen, Diabetes, Bluthochdruck und einem stark erhöhten Schlaganfallrisiko.
Er lebte allein in einer Wohnung eines Seniorenheims. Er betätigte an einem Mittag den Notruf. Der Mitarbeiter in der Zentrale konnte keinen telefonischen Kontakt aufnehmen (er hörte nur minutenlanges Stöhnen) und schickte deshalb einen Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes. Dieser fand den stark übergewichtigen Bewohner am Boden liegend. Es gelang ihm nicht, ihn aufzurichten. Er rief einen weiteren Mitarbeiter. Zusammen hievten sie den Bewohner auf die Couch und ließen ihn dort sitzen, ohne einen Arzt zu rufen. Erst am übernächsten Tag wurde er vom Pflegedienst in der Wohnung liegend gefunden. Er hatte einen Schlaganfall erlitten mit den Folgen einer Lähmung und Sprachstörung. Er vertrat die Ansicht, dass bei rechtzeitiger Behandlung diese gravierenden Folgen nicht eingetreten wären.
Die Klage auf Schmerzensgeld und Schadensersatz ist von den ersten beiden Instanzen (Landgericht Berlin und Oberlandesgericht, das in Berlin Kammergericht heißt) abgewiesen worden. Erst das Revisionsverfahren brachte den Erfolg.
Der Fall birgt komplizierte rechtliche Probleme. Vielleicht wäre das Ganze am einfachsten so erklärt: Hätte der Bewohner beim Rettungsdienst angerufen und hätte dieser nicht sofort einen Rettungswagen geschickt („minutenlanges Stöhnen“), müsste man um die Haftung nicht streiten. Hätte der Bewohner einen Arzt angerufen, wäre dieser dann gekommen und hätte ihn bloß auf die Couch gesetzt, einen schönen Tag gewünscht, ohne die erheblichen Vorerkrankungen zur Kenntnis zu nehmen und wäre wieder gegangen, dann wäre Jedermann vollkommen klar, dass der Arzt einen Behandlungsfehler begangen hätte. Der Patient müsste dann aber beweisen, dass der Gesundheitsschaden auf diesem Behandlungsfehler beruht: Also dass der Schlaganfall an jenem Mittag stattgefunden hat und nicht später oder viel früher, so dass er noch mit überwiegender Wahrscheinlichkeit hätte behandelt werden können (Lysetherapie). Das ist schwierig. Die Beweislast liegt beim Patienten. Davon gibt es die Ausnahme, wenn ein sogenannter grober Behandlungsfehler vorliegt, also ein Fehler, der einem Arzt schlechterdings nicht unterlaufen darf. Das wird man hier selbst ohne sachverständige Hilfe bejahen können. Für einen Arzt wäre ein solches Verhalten ein Verstoß gegen elementare Behandlungsregeln und Erkenntnisse der Medizin. Der Arzt müsste dann beweisen, dass der Patient auch ohne sein pflichtwidriges Verhalten die gleichen Schäden erlitten hätte. Das ist aussichtslos.
Damit wären wir beim Knackpunkt des Falls: Ein Hausnotrufdienst ist kein Arzt. Die Paragraphen 630a ff. BGB sind nicht anwendbar. Ein Hausnotrufdienstvertrag ist kein Arztvertrag, sondern lediglich ein Dienstvertrag. Was nun?
Der III. Senat überträgt die Rechtsprechung des VI. Senats zum Arzthaftungsrecht auf solche Dienstverträge, die in erster Linie dem Schutz von Leben und Gesundheit dienen, so wie ein Hausnotrufvertrag. Der BGH sieht es als einen Kardinalfehler, dass nicht sofort ein Rettungswagen gerufen wurde. Im vorliegenden Fall greift deshalb eine Beweislastumkehr zugunsten des Geschädigten ein, soweit es um die Frage geht, ob die schwerwiegenden Folgen des Schlaganfalls auch bei rechtzeitiger Hinzuziehung eines Rettungsdienstes eingetreten wären.
Da der Rechtsstreit zurückverwiesen worden ist, muss das Kammergericht jetzt die Höhe der Ansprüche der Erben klären.
Der verstorbene Kläger hat seinen Rechtstreit noch selber angefangen. Den Erfolg erlebt hat er leider nicht mehr. Während des Berufungsverfahrens ist er gestorben.
„Schmerzensgeldansprüche sind aber glücklicherweise vererblich. Es würde ihm wohl zur Genugtuung gereicht haben, dass seine Erben nach seinem Tod nicht einfach aufgegeben, sondern seine Sache durchgefochten haben“, sagt Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht Dr. Lovis Wambach.
Die vollständige Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 11.05.2017, Az.: III ZR 92/16 können Sie hier als PDF (156 KB) herunterladen: