Das Landgericht Aurich hat damit einen der bislang höchsten Schmerzensgeldbeträge in Deutschland ausgeurteilt.
Der minderjährige Kläger ist aufgrund eines Behandlungsfehlers, nämlich der fehlerhaften Behandlung einer bakteriellen Meningitis, außerordentlich schwer geschädigt. Er hat beide Unterschenkel verloren, eine Kniescheibe musste entfernt werden. Der Kläger musste auch zahlreiche Muskel- und Hauttransplantation über sich ergehen lassen. Der Kläger hat schwerste körperliche Beeinträchtigungen im Gesicht (Weichteilschäden an beiden Wangen), an den Armen, an den Oberschenkeln, sowie an beiden Kniegelenken, sein Körper ist von wulstigen Narben und Verwachsungen überdeckt. Er leidet auch an Phantomschmerzen. Verletzungsbedingt kommen Rückenschmerzen und Hüftbeschwerden hinzu. Auch psychisch ist der Kläger beeinträchtigt: er hat an Selbstvertrauen eingebüßt, leidet an starker motorischer Unruhe, einer deutlich reduzierten Ausdauerspanne, reduzierte Frustrationstoleranz, außerdem an einer Rechtschreibstörung.
Das Gericht hat dabei auf zwei Gesichtspunkte abgestellt. Die eine Überlegung fußt darauf, dass der Kläger jeden Tag sein Schicksal vor Augen geführt bekommt. Er wird sein Leben lang in seiner Mobilität erheblich eingeschränkt sein, selbst dann wenn eine hypothetische prothetische Versorgung mit Prothesen im Erwachsenenalter gelingen sollte. Das Gericht führte zutreffend aus, dass der Kläger selbst unter optimaler Hilfsmittelversorgung Einschränkungen beim Fahrradfahren, Autofahren, Treppensteigen und bei der Sportausübung zu erwarten hat. Sollte eine hypothetische Versorgung keinen Erfolg haben, würden sich diese Lebensbeeinträchtigungen noch weitaus größer darstellen. Einen „extremen Ausnahmefall“ für die Höhe des zugesprochenen Schmerzensgeldes hat das Gericht dann an einem weiteren Punkt festgemacht. Der Kläger war zur Zeit des Behandlungsfehlers erst fünf Jahre alt. Das Gericht möchte dem Kläger auf seine restliche statistische Lebenserwartung ein angemessenes Schmerzensgeld pro Jahr zusprechen. Es hält den Betrag von 10.000 € pro Jahr für angemessen. Und berechnet dann, dass der Kläger statistisch 85 Jahre alt werden wird. Der Behandlungsfehler fiel in das fünfte Lebensjahr, sodass noch 80 Jahre verbleiben, woraus sich die Summe von 800.000 € erklärt.
Diese Berechnung ist zumindest nach der offiziellen Sterbetafel nicht korrekt. Danach verbleiben einem fünfjährigen Jungen noch 73 Jahre. Rechnerisch korrekt wäre also ein Schmerzensgeld von 730.000 € gewesen. Es kann aber auch sein, dass das Gericht die Lebenserwartung geschätzt hat. Im Hinblick auf die immer rascher zunehmenden medizinischen Möglichkeiten und den medizinischen Fortschritt scheinen diese Tabellen in der Tat Makulatur. In Medizinerkreisen geht man davon aus, dass ein heute geborener 100 Jahre alt werden kann. Es spricht also viel dafür, sich über die Sterbetafel hinwegzusetzen. Ausführungen dazu hat das Gericht (leider) nicht gemacht.
Es gibt auch eine neue Tendenz, Schmerzensgelder tageweise zu berechnen. Diesen Ansatz findet unsere Kanzlei sinnvoll. Berechnet man zur Kontrolle die verbleibenden 73 Jahre, so ergeben sich daraus 26.654 Tage. Pro Tag ergibt es ein Schmerzensgeld von 30 €, was für die Vielzahl und die Schwere der Beeinträchtigungen auch kein hoher Betrag ist. Der Betrag wirkt nur im Ergebnis mächtig, als Zahl.
Interessant ist das Urteil auch aus einem weiteren Punkt. Die Behandlerseite ist verurteilt worden, die Verzinsung des Schmerzensgeldbetrages seit dem 22.3.2012 zu übernehmen. Abzüglich gezahlter 150.000 € ergeben sich 650.000 €, die mit dem gesetzlichen Zins in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 22.3.2012 bis heute zu verzinsen sind. Zum 1.4.2019 ergibt das einen Betrag von 199.111,17, ab dem 2.4.2019 ergibt sich täglich ein Betrag von 77,36 €, der bis zur endgültigen Zahlung dazugerechnet wird. Das kann noch dauern. Der Fall wird jetzt beim Oberlandesgericht Oldenburg im Berufungsverfahren geprüft (Az: 5 U 196/18). Es ist möglich, dass noch ein Revisionsverfahren vor dem Bundesgerichtshof (BGH) durchgeführt wird. Das kann lange dauern. Wenn das Urteil des Landgerichts Aurichs bestätigt wird, kostet jeder Tag fast 80€.
Die Zinsen sind also doppelt so hoch, wie das auf den Tag umgerechnete Schmerzensgeld. Kein Jurist in Deutschland ist jedoch der Auffassung, dass die gesetzlichen Verzugszinsen zu hoch sein.
„Man sieht an diesem Fall, dass bei einer Verfahrensdauer von sechs Jahren bei diesem Betrag so viel Zinsen anfallen, wie manche Gerichte in gleichfalls schweren Fällen als ‚angemessenen‘ Schmerzensgeldbetrag ausurteilen“, sagt Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht Dr. Lovis Wambach, „nämlich 200.000 €.“
Die vollständige Entscheidung des Landgerichts Aurichs vom 23.11.2018 . 2 O 165/12 können Sie hier als PDF (844 KB) herunterladen: