Zusammen mit dem Landgericht Aurich (LG Aurich, Urteil vom 23.11.2018 . 2 O 165/12) hat das Landgericht Gießen (LG Gießen, Urteil vom 06. November 2019 – 5 O 376/18) eines der höchsten jemals ausgeurteilten Schmerzensgeldbeträge in Deutschland ausgeurteilt.
Beide Gerichte haben ein Schmerzensgeld in Höhe von 800.000,- € zugesprochen. Dies aber jeweils mit unterschiedlichen Ansätzen und Begründungen.
- Während das Landgericht Aurich darauf abgestellt hat, dass der schwergeschädigte Junge für den Ausgleich seiner schwersten Lebensbeeinträchtigungen 10.000,- € im Jahr zur Verfügung haben muss, was bei einer Lebenserwartung von noch 80 Jahren die ausgeurteilte Summe ergibt,
- hat das Landgericht Gießen auf zwei Gesichtspunkte abgestellt: zum einen war der Eingriff unkomplizierte Routine (Nasenoperation), zum anderen ist der Schaden aus dem vollständig beherrschbaren Risiko des Krankenhauses entstanden.
Der Fall:
Schwerstschädigung durch defektes Beatmungsgerät
Das Beatmungsgerät war defekt, sodass aufgrund der Sauerstoffunterversorgung ein hypoxischer Hirnschaden entstand. Der Kläger ist schwerstgeschädigt und leidet unter dem Apallischen Syndrom (Wachkoma). Mit 17 Jahren ist seine Persönlichkeit und Lebensperspektive zerstört worden. Der neue Gesichtspunkt – also der Knackpunkt des Urteils – ist in den folgenden Worten des Gerichts zu finden:
„Bei der Bemessung des Schmerzensgelds hat sich die Kammer aber auch davon leiten lassen, dass Gerichte im Falle schwerster Hirnschäden einen Betrag von 500.000,00 € bereits vor mehr als zehn Jahren zuerkannt haben, ohne dass sich die Schmerzensgeldbeträge seitdem – auch nicht vor dem Hintergrund der Niedrigzinsphase – signifikant gesteigert hätten.“
Das Problem des Schmerzensgeldes:
es zerrinnt bei den heutige Zinsen!
Das ist leider auch ein Problem des Schmerzensgeldes. Das Schmerzensgeldkapital wird im Laufe des Lebens aufgebraucht, was insbesondere bei jüngeren Geschädigten ein großes Problem ist.
Während Geschädigte früher das Schmerzensgeld mündelsicher (absolut ohne Risiko) und kinderleicht in staatlichen Bundesschatzbriefen anlegen konnten, die es leider nicht mehr gibt, so ist heutzutage eine gewinnbringende Anlage risikoreich und einem Geschädigten nicht zu raten. Bundesschatzbriefe ergaben – gemessen an der 50-jährigen Geschichte – eine durchschnittliche Rendite von 6,7 Prozent.
Gerechnet auf ein Schmerzensgeldbetrag in Höhe von 500.000,- € sind das 33.500,- € im Jahr. Davon heruntergerechnet werden muss noch unter Berücksichtigung des Freibetrages von 801,- € die Kapitalertragsteuer in Höhe von 25 Prozent. Das sind 7.574,- € an den Staat, sodass 25.926,- € verbleiben. Im Monat sind das 2.160,50 €.
Wertsteigerung des Schmerzensgeldkapitals „früher“
Würde der Geschädigte das Schmerzensgeldkapital überhaupt nicht antasten, würde es sich unter Abzug der Kapitalertragsteuer bis zu seinem Tode wegen der Zinsansammlung auf die Summe von 10.374.738,31 € vermehrt haben. Bei Zinsauszahlung sind es 2.062.628,- €. Aber selbst wenn man nicht von 6,7 Prozent ausgeht, sondern von üblichen Sparbuchzinsen aus früherer Zeit, ergibt sich eine ansehnliche Kapitalansammlung.
Im Jahr 2008 betrugen die durchschnittlichen Sparzinsen 2,5 Prozent. Dies ergibt eine lebenslange Kapitalansammlung von 1.596.087,53 €; 2012 lagen die durchschnittlichen Sparbuchzinsen bei 1,3 Prozent, was immerhin ein Betrag von 926.744,95 nach Ablauf des Lebens ergibt, wenn der Geschädigte sein Geld nicht antastet. Bei Zinsauszahlungen wären es immerhin 1.090.853,- € (2,5 Prozent) oder 813.263,- € (1,3 Prozent).
WertVERLUST des Schmerzensgeldkapitals „heute“
Heutzutage wird von den Banken der „Ertrag“ von 0,1 Prozent jährlich gezahlt das entspricht 500,- € im Jahr oder monatlich 41,66 €. Kapitalertragsteuer muss bei einem Betrag von 500.000,- € nicht berechnet werden, weil der jährliche Zinsgewinn unterhalb des Freibetrages bleibt. Auf das Leben gerechnet (so wie oben) ergibt sich ein angesparter Betrag in Höhe von 531.805,26 €.
Kommen erst die Negativzinsen (Strafzinsen), muss der Betrag ab 100.000,- € mit mindestens 0,3 Prozent negativ verzinst werden. Das sind 1200,- € Gebühren für die Lagerung des Geldes pro Jahr, im Monat also 100 €. Die durchschnittliche Inflationsrate in Deutschland beträgt etwa 1,5 Prozent. Hinzugerechnet zu den Strafzinsen ergeben sich 1,8 Prozent Verlust. Ein 17-jähriger hat statistisch nach der Sterbetafel noch 61,77 Jahre zu leben. Wird das Schmerzensgeldkapital für den Rest des Lebens durch die 1,8 Prozent Verlust angegriffen, gibt es insgesamt ein Wertverlust von: 333.892,30 €.
Das Gericht wollte die Einbußen ausgleichen…
Diese Einbuße wollte das Gericht ausgleichen. Das ist nur knapp gelungen. Experten gehen von einer Zunahme der Inflation aus, auch aufgrund des Klimawandels (Klimapaket).
Unterstellt man eine zukünftige durchschnittliche Inflation von zwei Prozent, ergeben sich mit Strafzins 2,3 Prozent Verlust. Berechnet auf die durchschnittliche statistische Lebenserwartung nach der Sterbetafel sind das -377.269,61 €, die dem Kapital abgezogen werden müssen. Bei Tod verbleiben also: 122.730,39 €. Man sieht folgendes: wenn das Gericht auf einen Schmerzensgeldbetrag von 500.000,- € die Geldentwertung vollständig aufschlagen wollte, hätte es fast 900.000,- € zusprechen müssen.
Sodann kritisiert das Gericht, dass im Falle schwerster Hirnschäden schon vor zehn Jahren ein Betrag von 500.000,- € zugesprochen worden ist, ohne dass sich die Schmerzensgeldbeträge signifikant gesteigert hätten. Nimmt man zusätzlich zu dem Gesichtspunkt der niedrigen Zinsen für einen zehn Jahre alten Schmerzensgeldbetrag von 500.000,- € eine Indexanpassung vor, so ergeben sich indexbereinigt 571.137,34. Hier sind sozusagen noch 71.137,34 € aus der Vergangenheit aufzurechnen, sodass sich insgesamt ein Betrag von 948.406,95 € ergibt. Hinzu kommt die Tatsache, dass die Gerichte heutzutage immer großzügiger immateriellen Ersatz (Schmerzensgeld) zusprechen. Rechnet man auch noch diesen Gesichtspunkt dem Schmerzensgeldbetrag hinzu, ist man über 1 Millionen €. Das Gericht hätte auch das von ihm zuerkannte Schmerzensgeld unter dem von ihm angestellten Erwägungen auf 1.000.000,- € festsetzen können, ohne dass es dadurch zu einer Sprengung des allgemeinen Entschädigungsgefüges gekommen wäre.
Bei entsprechender gründlicher (ähnlich der hier vorgenommen) Begründung wären die Chancen hoch, dass das Urteil das momentane Berufungsverfahren vor dem Oberlandesgericht Frankfurt und gegebenenfalls auch ein Revisionsverfahren vor dem Bundesgerichtshof übersteht. Das wäre für die Rechtsfortschreibung in Sachen Schmerzensgeld ein ganz außerordentlicher Erfolg.
„Der Kernsatz des Urteils lautet: wenn das Geld nichts mehr wert ist, ist auch das Schmerzensgeld unzulänglicher. Das ist uneingeschränkt richtig und wird dessen ungeachtet so gut wie niemals berücksichtigt, was schlichtweg falsch ist“, sagt Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht (Patientenanwalt) Dr. Dr. Lovis Wambach.
Das vollständige Urteil des Landgerichts Gießen vom 06. November 2019 – 5 O 376/18 können Sie hier als PDF (36 KB) herunterladen:
LG Gießen, Urteil vom 06. November 2019 – 5 O 376/18