Die Überlegung der ersten Instanz:
In einer bahnbrechenden Entscheidung hatte das Landgericht Aurich einem durch großflächigen Narben und den Verlust beider Unterschenkel schwerstgeschädigten Kind 800.000 € zugesprochen.
Die Entscheidung habe ich ganz ausführlich für die Homepage besprochen. Sie können die Urteilsbesprechung und das Urteil hier nachlesen:
Das Landgericht hat überwiegend darauf abgestellt, dass der durch einen groben Behandlungsfehler mit fünf Jahren sehr schwergeschädigte Junge für den Rest der ihm statistisch verbleibenden 80 Jahre Lebenszeit einen angemessenen Betrag erhalten sollte. Diesen Betrag hat das Gericht pauschal mit 10.000 € pro Jahr veranschlagt. So hat es die 800.000 € berechnet.
Die Erwägungen der zweiten Instanz:
Das Oberlandesgericht hat diesen innovativen Gedanken nicht durchgehen lassen. Das OLG lehnt eine mathematische Berechnung – sei es jährlich oder täglich – als willkürlich ab. Es rettete den Schmerzensgeldbetrag in dem es den „herkömmlichen Weg“ wählt und ganz ausführlich begründet. Als Hauptaspekt nimmt das Gericht die Tatsache, dass ein ganz besonderer Einzelfall vorliegt, nämlich: ein in sehr jungen Jahren sehr schwergeschädigter Junge, der seine sehr schweren Lebensbeeinträchtigungen für den Rest seines noch sehr langen Lebens mit sich herum tragen, sie wahrnehmen und unter ihnen leiden muss.
Der Zinsanspruch:
In dem Urteil wird die Beklagte verurteilt, an den Kläger als Nebenforderung Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz zu zahlen. Das klingt sehr unspektakulär. In diesem Fall geht es aber um sehr große Zinsbeträge, weil das Schmerzensgeld so hoch ist und der Prozess lange gedauert hat. Die Klage ist eingereicht worden am 22.3.2012. Das Urteil ist vom 18.3.2020. Die Beklagte hat drei Zahlungen geleistet, sodass der Zinsanspruch in vier Stufen berechnet werden muss.
Vom 22.3.2012 bis 19.11.2015 sind auf die vollen 800.000 für 3,5 Jahre 133.812,97 € Zinsen angefallen. Dann hat die Beklagte am 19.11.2015 100.000 € bezahlt. Von der ersten bis zur zweiten Zahlung ist mit 700.000 € zu rechnen. Die zweite Zahlung erfolgte am 11.12.2015 in Höhe von 50.000. Zwischen erster und zweiter Zahlung ergeben sich Zinsen in Höhe von 1.839,36 €. Bis zur dritten Zahlung am 11.12.2018 Höhe von 100.000,- € muss mit 650.000 € gerechnet werden. Es ergibt sich ein gesetzlicher Zinsanspruch in Höhe von 80.519, 42 Euro. Vom 12.12.2018 bis zum Urteil am 18.3.2020 wird mit 550.000 € gerechnet. Dies ergibt einen Zinsanspruch in Höhe von: 28.730,82 €.
Euro: | 133.812,97 |
Euro: | 1.839,36 |
Euro: | 80.519,42 |
Euro: | 28.730,82 |
Euro: | 244.902,57 |
Insgesamt ergeben sich also bis zum Tag des Urteilsspruches 244.902,57 Euro Zinsen:
Jeder Tag ab dem 19.03.2020 kostet zurzeit mit 4,12 Prozent 61,91 Euro pro Tag bis zur endgültigen Zahlung des Restbetrages.
Jeder Tag ab dem 19.03.2020 kostet zurzeit mit 4,12 Prozent 61,91 Euro pro Tag bis zur endgültigen Zahlung des Restbetrages.
Wie wird es weitergehen?
Das Gericht hat die Revision nicht zugelassen. Dafür liegt auch kein Grund vor, da es das Urteil nicht auf den revisionsrechtlich überprüfbaren Gedanken des Landgerichts gestützt hat, dass ein Schmerzensgeld auch jährlich berechnet werden kann. Darüber hat der Bundesgerichtshof bisher noch nicht befunden, sodass eine Revisionszulassung sinnvoll gewesen wäre. Das Oberlandesgericht bewegt sich aber ausschließlich im konventionellen Rahmen der Schmerzensgeldbemessung. Es richtet sich dabei direkt nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs aus, sodass der BGH in dieser Hinsicht nichts zu beanstanden hätte.
Hinsichtlich der Höhe des Schmerzensgeldbetrages billig der Bundesgerichtshof den unteren Instanzen einen erheblichen Freiraum zu. Die Beurteilung durch die Instanzengerichte kann in aller Regel nicht schon deshalb beanstandet werden, weil sie zu niedrig oder zu reichlich erscheinen. Wichtig ist, dass die Richter der Instanzengerichte die maßgeblichen Umstände ihrer Schmerzensgeldbemessung erkennen lassen und nicht gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstoßen.
Das Oberlandesgericht Oldenburg hat sich – vermutlich auch deshalb – sehr große Mühe gegeben, seine Überlegungen zur Schmerzensgeldhöhe nachvollziehbar zu machen.
„Sollte die Beklagte eine Nichtzulassungsbeschwerde einlegen, wird diese vom Bundesgerichtshof zu 99,999 Prozent durch Beschluss und ohne Begründung zurückgewiesen werden“, sagt Patientenanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht Dr. Lovis Wambach.
Das vollständige Urteil des Oberlandesgerichts Oldenburg vom 18. März 2020 können Sie hier als PDF-Datei (52 KB) herunterladen:
OLG Oldenburg, Urteil vom 18.03.2020 – 5 U 196/18