Prognose eines Erwerbsschadens und Nichtanrechenbarkeit einer überobligatorischen Tätigkeit


1. Sachverhalt:

Der Kläger ist mit 16 Jahren bei einem Verkehrsunfall so schwer verletzt worden, dass er aufgrund der bei dem Unfall erlittenen Querschnittlähmung auf den Rollstuhl angewiesen ist.

Der beklagte Versicherer zahlt auf alle Schadensposten (Schmerzensgeld, Haushaltsführungsschaden, Mehrbedarfsschaden, Pflegekosten und auch auf Verdienstausfall).


2. Erwerbsschaden:

Streitig ist in diesem Verfahren lediglich der Verdienstausfall, da der Versicherer nur einen geringen Erwerbsschaden für eine geringfügige Tätigkeit zahlt. In dem Rechtsstreit ist umfangreich Beweis erhoben worden (Vernehmung der Eltern des Klägers und Einholung eines berufskundlichen Sachverständigengutachtens). Das Gericht kam zu der Überzeugung, dass der Kläger sich nicht auf einen einfachen Beruf verweisen lassen muss, sondern eine Ausbildung als Industriemechaniker mit Erfolg absolviert hätte, sodass sich die Höhe des Erwerbsschadens daran orientieren muss. Abgezogen werden die Leistungen aus der Erwerbsminderungsrente.


3. Nichtanrechnung der überobligatorischen Tätigkeit:

Das Interessante des Urteils sind die Ausführungen dazu, dass das Einkommen aus einer überobligatorischen Tätigkeit nicht auf den Erwerbsschaden anzurechnen ist. Zu dieser Frage gibt es nämlich nicht viele Gerichtsurteile.

Das Gericht sagt, dass sich der Geschädigte zwar im Rahmen seiner Pflicht zur Minderung des Schaden bemühen muss, seine verbliebene Arbeitskraft im Rahmen des Zumutbaren einzusetzen, die dann wiederum auf den Erwerbsschaden angerechnet wird. Das gilt allerdings dann nicht, wenn der Geschädigte durch überobligationsmäßige Erwerbstätigkeit ein Einkommen erzielt. Dieses ist nicht auf den Erwerbsschaden anzurechnen, da dieses Einkommen gerade nicht aus einer zumutbaren Tätigkeit stammt.

Bei der Prüfung der Zumutbarkeit ist beispielsweise auf das Alter, die Persönlichkeit, die Leistungsfähigkeit, die seelische und körperliche Anpassungsfähigkeit, der Bildungsgang sowie Kenntnisse und Fähigkeiten abzustellen.

Vorliegend ist die Tätigkeit des Klägers als ungelernter Arbeitnehmer in einem Callcenter im Hinblick auf seine (fiktive) Tätigkeit als staatlich anerkannter Techniker in einem Metallberuf nicht zumutbar, also überobligatorisch. Dabei spielt es nach Ansicht des Gerichts auch eine Rolle, dass die Tätigkeit als ungelernter Arbeitnehmer im Callcenter ein deutlich geringeres Niveau und gesellschaftliches Ansehen aufweist, als die Arbeit als Industrietechniker, die eine dreijährige Lehre und zweijährige Weiterbildung voraussetzt. Deshalb kommt es auf die gesundheitlichen Möglichkeiten des Klägers trotz seiner Querschnittlähmung in bestimmten Umfang erwerbstätig zu sein, nach Meinung des Gerichts nicht mehr an.

 

“Der Bundesgerichtshof sagt, dass bei jüngeren Menschen üblicherweise bei der Prognose des beruflichen Werdegangs angenommen werden muss, dass diese die ihnen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten für eine gewinnbringende Berufstätigkeit nutzen werden“, sagt Fachanwalt für Medizinrecht Dr. Lovis Wambach.

 

Das vollständige Urteil des Oberlandesgerichts Brandenburg vom 27.4.2023 – 12 U 65 /21 können Sie hier herunterladen:

 

Schleswig-Holsteinisches OLG, Urteil vom 2. Juli 2020 – 7 U 264/19

 

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