Sachverhaltsaufklärung durch das Gericht bei ärztlichen Behandlungsfehlern

In drei neueren Beschlüssen hat sich der Bundesgerichtshof damit auseinandergesetzt, wann das Vorbringen des Patienten in einem Arzthaftungsprozess vor den Instanzengerichten (Landgericht, Oberlandesgericht) als unerheblich übergangen werden darf. Es hat dabei aber strenge Anforderungen an die Gerichte gestellt und in allen drei Fällen eine Gehörsverletzung bejaht.

In dem ersten Fall (BGH, Beschluss vom 07.11.2017 – VI ZR 173/17) haben Landgericht und Oberlandesgericht das Vorbringen der Klägerin, deren Myositis (Muskelentzündung) fehlerhaft behandelt worden war, dass der Behandlungsfehler (Nichteinholung erforderlicher Befunde) zumindest (auch) auf einem groben Organisationsverschulden beruhe, indem eine Muskelbiobsie (Entnahme von Muskelgewebe) nicht durchgeführt worden war, weil die Ärzte dies entschieden hätten, sondern weil aufgrund eines Übertragungsfehlers in den Krankenunterlagen fälschlicherweise vermerkt worden war, dass eine Muskelbiopsie nicht indiziert (angezeigt) gewesen sei. Der BGH hat an das OLG zurückverwiesen, das jetzt zugunsten der Patientin prüfen muss, ob nicht sogar ein grober Organisationsfehler vorgelegen haben könnte.

Der zweite Fall (BGH, Beschluss vom 08.11.2016 – VI ZR 512/15) betraf eine Krampfaderoperation, bei der ein Nerv geschädigt worden ist. Streitig war, ob er aufgrund Drucks (Kompression) geschädigt oder ganz oder teilweise durchtrennt worden war. Der gerichtliche Sachverständige hatte ausgeführt, dass eine vollständige Durchtrennung des Nervs einen Behandlungsfehler darstelle, eine Druckschädigung hingegen nicht zwingend auf einen Behandlungsfehler schließen lasse. Die Klägerin hatte jedoch vorgetragen, dass vermutlich eine teilweise Durchtrennung des Nervs vorgelegen habe, was behandlungsfehlerhaft gewesen wäre. Diesen Hauptvorwurf hatte sie schon vor dem Landgericht und dann auch noch vor dem Oberlandesgericht in der Berufung vorgetragen.

Gerichte müssen in ihrem Urteil nicht alles aufführen, was die Parteien vortragen. Dies kann aus Sicht des Richters unerheblich, also neben der Sache sein. Wenn aber nun der Kern des Rechtsstreits, also eine Frage die für das Verfahren von zentraler Bedeutung ist, im Urteil nicht erwähnt wird, dann ist davon auszugehen, dass das Gericht diesen Punkt nicht hinreichend geprüft hat. In diesem Fall hat das Gericht das „teilweise Anritzen“ des Nervs, das ausweislich des Protokolls vom Prozessbevollmächtigten der Klägerin in der mündlichen Verhandlung angesprochen worden war, nicht weiter aufgeklärt, wozu der BGH das Oberlandesgericht jetzt verpflichtet hat, indem es den Rechtsstreit an das Berufungsgericht zurückverwiesen hat.

Der dritte Fall (BGH, Beschluss vom 16.05.2017 – VI ZR 89/16) betraf eine aufgrund des Verdachtes auf Krebs durchgeführte Schilddrüsenoperation, die bei der Klägerin zur Stimmbandlähmung und Minderbeweglichkeit des Stimmbands geführt hat. Die Klägerin ist der Meinung gewesen, dass die Operation behandlungsfehlerhaft gewesen sei, was gutachterlich nicht bestätigt worden ist. Sie hat dann nach Ablauf der vom Gericht gesetzten Frist zur Stellungnahme zum Gutachten eingewandt, dass das bei der Operation entnommene Präparat keinen Nachweis bösartiger Zellen enthalten hat, so dass davon ausgegangen werden muss, dass die in der Biopsie vor der Operation gewonnenen Zellen falsch befundet worden sind (Verwechslung mit ähnlich aussehenden Milchglaszellen), was nach ihrer Sicht einen groben Behandlungsfehler darstelle. Bei einem gutartigen Tumor hätte sie sich ja im Übrigen gar nicht operieren lassen müssen. Das Landgericht hat dieses Vorbringen als verspätet angesehen und die Klage abgewiesen; das Oberlandesgericht hat die dagegen gerichtete Berufung per Beschluss zurück gewiesen. Dagegen richtet sich die Revision der Klägerin. Der BGH hat die Entscheidung aufgehoben und den Rechtsstreit an das Oberlandesgericht zurückverwiesen. Nach seiner Meinung war der Vortrag der Klägerin zu der fehlerhaften pathologischen Auswertung nicht von der vom Landgericht gesetzten Frist umfasst, da diese Frist  ausschließlich die Stellungnahme zum Gutachten betroffen hatte. Die von der Klägerin behauptete Verwechselung von Krebs- und Milchglaszellen muss nun mittels eines vom OLG noch einzuholenden Sachverständigengutachtens überprüft werden.

„Der Bundesgerichtshof sagt: Der Richter ist verpflichtet, den ihm zur Entscheidung unterbreiteten Sachverhalt auszuschöpfen und sämtlichen Unklarheiten, Zweifeln oder Widersprüchen von Amts wegen nachzugehen“, sagt Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht Dr. Lovis Wambach, „diesen in Arzthaftungsprozessen herrschenden Amtsermittlungsgrundsatz muss man bei einigen Gerichten immer wieder unterstreichen.“

 

Den Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 07.11.2017 – VI ZR 173/17 können Sie hier als PDF (120 KB) herunterladen:

BGH, Beschluss vom 07.11.2017 – VI ZR 173/17

Den Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 08.11.2016 – VI ZR 512/15 können Sie hier als PDF (112 KB) herunterladen:

BGH, Beschluss vom 08.11.2016 – VI ZR 512/15

Den Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 16.05.2017 – VI ZR 89/16 können Sie hier als PDF (164 KB) herunterladen:

BGH, Beschluss vom 16.05.2017 – VI ZR 89/16

Zu den Anforderungen an ein faires Verfahren in Arzthaftungssachen hat sich auch das Bundesverfassungsgericht in einem Beschluss geäußert. Das Urteil habe ich in einer anderen News besprochen:

Recht auf faires Verfahren (News)

Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 01.06.2017 – 2 BVR 3068/14 können Sie hier als PDF (144 KB) herunterladen:

BVerfG, Beschluss vom 01.06.17 – 2 BVR 3068/14

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