Nach einer Knieoperation wurde der Kläger in den Aufwachraum verbracht. Dort stürzte er mangels Bettgitter aus dem Bett und prallte mit dem Kopf auf den Fußboden. Er erlitt schwerste Schäden, da sich eine Querschnittlähmung einstellt aufgrund der Verletzung des Rückenmarks. Die Folgeschäden und Lebensbeeinträchtigungen sind immens: neben kognitiven Funktionseinschränkungen (Denkstörungen) leidet der Kläger unter Inkontinenz sowohl des Harns, als auch des Darms. Alle vier Gliedmaße sind (inkomplett) gelähmt. Er kann nur noch am Rollator gehen und ist komplett pflegebedürftig. Das genaue Ausmaß der Schäden ließ sich noch nicht ermitteln. Deshalb hat das Gericht ein Urteil dem Grunde nach erlassen, also ob eine Haftung überhaupt besteht (Grundurteil). Die Höhe der Ansprüche wird mit einem Endurteil festgestellt, wenn ein Sachverständiger den genauen Gesundheitszustand und das Ausmaß der Schäden des Klägers ermittelt haben wird. Dann wird das Schmerzensgeld, der Haushaltsführungsschaden und der Mehrbedarfsschaden ausgeurteilt (Verdienstausfall gab es nicht, weil der Geschädigte schon Rentner war).
Dem Grunde nach hat das Gericht einen Anspruch bejaht, weil die Behandlung des Klägers im Aufwachraum im Haus des Beklagten Krankenhausträgers fehlerhaft gewesen ist. Sachverständig beraten kommt das Gericht zu dem Ergebnis, dass die Beklagte nicht das Erforderliche veranlasst hat, um die Schädigung des Klägers zu verhindern. Nicht nur, dass kein Bettgitter angebracht worden war, zum Zeitpunkt des Sturzes war aufgrund einer Verkettung unglücklicher Zustände keine Person im Aufwachraum.
Das Gericht urteilte sachverständig beraten: der Fall des Klägers fällt in den Bereich des voll beherrschbaren Risikos. Voll beherrschbar sind alle Bereiche im Umfeld der ärztlichen Tätigkeit, die von dem konkreten Patienten unabhängig und von den individuellen Eigenheiten seines Organismus nicht beeinflusst sind. Ein voll beherrschbares Risiko ist nach der Rechtsprechung insbesondere dann anzunehmen, wenn sich der Patient zum Unfallzeitpunkt in einer konkreten, eine besondere Sicherungspflicht des Obhutspflichtigen auslösenden Bewegung-, Transport oder sonstigen pflegerischen Maßnahme, an der das Pflegepersonal unmittelbar beteiligt war, befunden hat. Der Kläger befand sich nach Meinung des Gerichts aufgrund der Nachwirkungen der Narkose und der dadurch grundsätzlich bedingten Sturzgefährdung in einer konkreten, eine besondere Sicherungspflicht des Personals der Beklagten auslösenden pflegerischen Maßnahme.
Das Gericht stellte weiter fest: weil das Risiko für die Beklagte voll beherrschbar war, wird zugunsten des Klägers die Beweislastumkehr des Paragrafen 630h Abs. 1 BGB herangezogen, wonach ein Fehler des Behandelnden vermutet wird, wenn sich ein allgemeines Behandlungsrisiko verwirklicht hat, das für den Behandelnden voll beherrschbar war und das zur Verletzung des Lebens, des Körpers oder der Gesundheit des Patienten geführt hat.
Verwirklicht hat sich hier der Sturz des Klägers aufgrund der Nachwirkungen der Narkose ohne jegliche Schutzreflexe, sodass die außerordentlich schwerwiegenden Verletzungen eintreten konnten.
Die Kammer des Landgerichts ist zu der Gewissheit gelangt, dass der Sturz bei Anbringung der Bettgitter hätte verhindert werden können. In diesem Fall wäre der bewusstlose Kläger schlichtweg nicht aus dem Bett gerollt. Seine fehlenden Schutzreflexe zeigten auch, dass er nicht so wach war, dass er über die Bettgitter geklettert wäre. Für die Kausalität (also für den Zusammenhang zwischen Behandlungsfehler und Gesundheitsschaden) kommt es auf die Überlegung an, was passiert wäre, wenn die zweite Pflegekraft im Aufwachraum geblieben wäre, nicht an.
Der gerichtlich bestellte Sachverständige hat in dem Gerichtsverfahren ausgeführt, dass er der sicheren Überzeugung sei, dass der Sturz auch ohne Bettgitter verhindert worden wäre, wenn eine Pflegekraft um Aufwachraum gewesen wäre. Dies deshalb, weil die Patienten vor dem Aufwachen erst unruhig werden und schon ein Ansprechen in diesem Augenblick ausreicht, um sie zu Bewusstsein zu bringen, so dass sie wissen, wo sie sich befinden.
„Wegen des enormem Vorteils der Beweiserleichterung wegen voll beherrschbarer Risiken, lohnt es die Anstrengung auf sich zu nehmen, im Falle eines Behandlungsfehlers, die Rechtsprechung nach vergleichbaren Fällen zu durchforsten, um mit einem voll beherrschbaren Risiko argumentieren zu können“, sagt Patientenanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht Dr. Lovis Wambach.
Das vollständige Urteil des Landgerichts Dortmund vom 4. März 2021 – 4 O 152 / 19 können Sie hier herunterladen:
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(Erwerbsschaden, Haushaltsführungsschaden und Mehrbedarfsschaden)
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