In diesen beiden Fällen geht es um sogenannte Lebendspenden von Nieren. Das sind im Gegensatz zu den Spenden von toten Organspendern, solche Spenden, die unter Lebenden, meist Verwandten oder Ehepartnern abgegeben werden. Eine solche Übertragung eines Organs unter Lebenden ist nur dann zulässig, wenn kein Spenderorgan eines Toten zur Verfügung steht.
Bei Nieren scheint das Spenden eine einfache Sache, schließlich hat der Mensch ja zwei davon. Wie diese beiden Urteile zeigen ist es jedoch keinesfalls einfach, was die Entscheidung für die Beteiligten schwieriger macht, als Vielfach angenommen. Aus diesem Grunde sind die Aufklärungspflichten auf Grund § 8 des Transplantationsgesetzes (TPG) verschärft.
Zum einen muss bei dem Aufklärungsgespräch zur Lebendspende ein neutraler Arzt zusätzlich zu dem die Aufklärung durchführenden Arzt anwesend sein. Zum anderen muss eine zu unterzeichnende Aufklärungsniederschrift gefertigt werden.
In dem einen vom BGH zu entscheidenden Fall hat der Ehemann seiner erkrankten Ehefrau eine Niere gespendet. Seitdem ist er, wie er in einem Pressebericht über Bundesgerichtshofsurteil zitiert worden ist: immer müde und chronisch erschöpft, „Mein Leben hat sich halbiert“, sagt er.
Der Kläger hat einen Verein gegründet, um Öffentlichkeit zu schaffen: Interessengemeinschaft Nieren Lebendspende e. V.
Der Bundesgerichtshof hat festgestellt, dass der Kläger formal falsch aufgeklärt worden ist, in dem kein neutraler Arzt bei der Aufklärung anwesend war; zudem ist auch inhaltlich falsch aufgeklärt worden, nämlich nicht hinreichend über die möglichen, auch mittelbaren Folgen und Spätfolgen der Organentnahme. Er ist auch irreführend aufgeklärt worden: vor der Operation waren seine Nierenwerte im unteren Grenzbereich. Da die Nierenfunktion bei Entnahme einer Niere sich normalerweise nur auf 70 Prozent der ursprünglichen Leistung einpegelt, wäre er damit im Bereich einer chronischen Nierenerkrankung gewesen. Darüber hätte aufgeklärt werden müssen, wie auch über das Risiko im Laufe der Zeit selbst dialysepflichtig zu werden.
In dem zweiten Fall spendete eine Tochter für ihren nierenkranken Vater. Die Niere wurde abgestoßen. Die Tochter leidet seit der Transplantation unter chronischer Erschöpfung (Fatigue-Syndrom). Sie macht geltend, dass sie nicht über die bei ihrem Vater bestehende Hochrisikosituation für einen Transplantatverlust aufgeklärt worden ist. Auch die möglichen Folgen der Lebendspende für ihre Gesundheit sei nicht ausreichend erörtert worden. Genau wie in dem ersten Fall waren auch in diesem Fall die Nierenwerte der Spenderin vor der Operation im unteren Grenzbereich. Auf das dadurch zusätzliche erhöhte Risiko ist die Klägerin genauso wie der Kläger im anderen Fall nicht hingewiesen worden.
Formal fehlte es auch hier an der Teilnahme eines weiteren, neutralen Arztes und an einem ordnungsgemäßen und unterzeichneten Aufklärungsprotokoll.
Die Aufklärung des Spenders über die Risiken seiner Lebendorganspende hat in Anwesenheit eines neutralen Arztes zu erfolgen und muss zudem dokumentiert werden, sowie von den aufklärenden Ärzten, dem neutralen Arzt und dem Spender unterschrieben werden.
Dies geht weit über die dem Arzt normalerweise auferlegten Aufklärungspflichten hinaus. Eine Aufklärung durch zwei Ärzte ist nicht erforderlich. Desgleichen ist auch kein Aufklärungsbogen notwendig für eine ordnungsgemäße Aufklärung. Der Aufklärungsbogen erleichtert lediglich dem Arzt die Darlegung, dass er überhaupt aufgeklärt hat und welche Punkte vermutlich besprochen worden sind.
Erfolgt nach der vom Transplantationsgesetz vorgesehenen Aufklärung die Niederschrift nicht oder nicht hinreichend, oder wird gesetzeswidrig auf die Hinzuziehung des neutralen Arztes verzichtet, ist die Aufklärung nicht per se unwirksam. Im Einzelfall könnte der Arzt rein theoretisch eine korrekte Aufklärung beweisen; rein tatsächlich sind die Verstöße in der Regel als starkes Indiz dafür heranzuziehen, dass eine Aufklärung nicht oder jedenfalls nicht in hinreichender Weise stattgefunden hat (Beweisskepsis), so der BGH.
Der ganz entscheidende juristische Knackpunkt dieser beiden (zusammenhängenden) Grundsatzentscheidungen ist darüber hinaus folgender: normalerweise kann sich der Arzt, wenn feststeht, dass nicht oder nicht hinreichend aufgeklärt worden ist, damit verteidigen, dass der Patient ohnehin, also auch bei ordnungsgemäßer Aufklärung, in den Eingriff eingewilligt hätte. Diese Rechtsfigur nennt man „hypothetische Einwilligung“. Gerade im Bereich der Lebendspende läge es auf der Hand, daran zu denken, dass Ehemann oder Tochter in die Entnahme ihrer Niere eingewilligt hätten, auch wenn sie ordnungsgemäß über die Risiken der Spende aufgeklärt worden wären. Der Ehemann hat dies im Verlaufe des Prozesses sogar eingeräumt.
Der BGH lässt aber für die hypothetische Einwilligung bei einem Verstoß gegen das Transplantationsgesetzes keinen Raum. Das begründet er folgendermaßen. Der Gesetzgeber hat für den Bereich der Organentnahme zu Lebzeiten (die kein Heileingriff ist!) Mit dem Transplantationsgesetz eine detaillierte gesetzliche Regelung geschaffen die besondere Anforderungen an die Aufklärung stellt. Eine entsprechende Regelung (wie etwa in § 630h Abs. 2 Satz 2 BGB, mit der die hypothetische Einwilligung geregelt ist), hat er absichtlich nicht getroffen. Die für den Behandlungsvertrag zwischen Arzt und Patient übernommenen Grundsätze der hypothetischen Einwilligung lassen sich auf die Situation der Lebendorganspende nicht übertragen, dem steht der sogenannte Schutzzweck der Norm entgegen. Aufgrund der in § 8 Abs. 2 Satz 1 und 2 TPG ausgestalteten besonderen Aufklärungsverpflichtung darf der Arzt sich mit dem Einwand der hypothetischen Aufklärung nicht verteidigen. Der Schutzzweck der Norm ist nämlich folgender: die vom Gesetzgeber bewusst streng formulierte Norm mit ihren Aufklärungsvorgaben soll den Spender davor bewahren, sich selbst einen größeren persönlichen Schaden zuzufügen. Die Regelung bezweckt den „Schutz des Spenders vor sich selbst“. Bei einer Organspende zwischen sich nahestehenden Personen liegt es nämlich auf der Hand, dass sich der potentielle Spender sittlich verpflichtet fühlt, sein Organ zu spenden; möglich ist auch, dass der Spender sich der Erwartungshaltung der Familie nicht entziehen möchte oder kann. Deshalb ist es Pflicht, vor jeder Lebendspende, die Freiwilligkeit zu prüfen, also ob Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Einwilligung in die Spende nicht freiwillig erfolgt ist. Die im Transplantationsgesetz vorgesehene Verfahrenssicherung würde leerlaufen, wenn sie auf Grundlage einer unzureichenden Informationslage erfolgte. Vor diesem Hintergrund kann sich die Behandlerseite, die dem Spender das Organ entnommen hat, ohne ihn hinreichend über die Chancen und Risiken der Spende aufzuklären, nicht darauf berufen, dass der Spender mit der Organentnahme auch bei ordnungsgemäßer Aufklärung einverstanden gewesen wäre. Könnte nämlich die Behandlerseite mit diesem Einwand eine Haftung abwenden, bliebe die rechtswidrige Organentnahme sanktionslos, also ohne Folgen für den sich nicht der Rechtsordnung gemäß verhaltenden Arzt. Sodann hat der BGH noch folgenden Gesichtspunkt in seine Überlegungen mit einbezogen: bei unwirksamer Einwilligung in die Organentnahme ist auch die Entscheidung des Organempfängers infrage zu stellen. Gerade dann, wenn sich Personen besonders nahe stehen, wird auch der Empfänger des Organs für sich abwägen, ob er – in Anbetracht der Risiken – die Spende überhaupt annehmen will und kann. Auch aus diesem Grunde darf der Einwand der hypothetischen Einwilligung in dieser besonderen Fallgestaltung nicht berücksichtigt werden.
Der lange Weg durch die Instanzen ist noch nicht zu Ende. In beiden Fällen hat der Bundesgerichtshof den Rechtsstreit an das Berufungsgericht (in beiden Fällen das Oberlandesgericht Hamm) zurückverwiesen. Dort muss nun geprüft werden, welche gesundheitlichen Beeinträchtigungen Spender und Spenderin haben und ob diese ursächlich auf die Nierenspende zurückzuführen sind, also ob die Kausalität gegeben ist. Das kann Jahre dauern, mit Gutachten und Gegengutachten. Wenn die Kausalität bejaht wird, wird das Oberlandesgericht Hamm auch noch über die Höhe des Schadens zu entscheiden haben. Dabei geht es nicht nur um ein Schmerzensgeld. Bei den vorgetragenen Gesundheitsbeeinträchtigungen, wie etwa die chronische Erschöpfung, liegt dann auch ein Erwerbsschaden und ein Haushaltsführungsschaden vor.
„Ungeachtet der hier schon vorliegenden gesetzlichen Vorgaben hat das Selbstbestimmungsrecht in der deutschen Rechtsordnung einen so hohen Rang, dass der Bundesgerichtshof an den Nachweis der hypothetischen Einwilligung schon immer strengste Anforderungen gestellt hat, also auch bei normalen medizinischen Behandlungen oder ärztlichen Eingriffen“, sagt Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht Dr. Lovis Wambach.
Die beiden vollständigen Urteile des Bundesgerichtshofs vom 29. Januar 2019 können Sie sich hier als PDF Datei (188 und 60 KB) herunterladen: