Die jugendliche Patientin (15 Jahre) war jahrelang in regelmäßiger Behandlung bei ihrem Hausarzt. Sie litt verstärkt unter verschiedenen Beschwerden, wie zum Beispiel Kopfschmerzen, starken Husten, Schlafproblemen und einer Schwellung am Fuß. Außerdem ist wiederholt Bluthochdruck festgestellt worden; zudem ist die Patientin viermal bewusstlos geworden. Der Hausarzt führte trotzdem keine Untersuchung der Blut- und Nierenwerte durch. In der Folgezeit wurden bei der Klägerin beidseitig Schrumpfnieren diagnostiziert. Zwei Nierentransplantationen, die ihre Eltern durch Lebendspenden ermöglicht hatten, schlugen fehl.
Sachverständig beraten hat das Oberlandesgericht die Unterlassung der elementar gebotenen diagnostischen Maßnahmen aufgrund der zahlreichen Beschwerden und insbesondere der mehrfachen Bewusstlosigkeit als groben Befunderhebungsfehler eingestuft. Wenn die Befunde erhoben worden wären, so wäre anhand der Werte die Nierenfunktionsstörungen offenbar geworden. Eine Nichtreaktion hierauf wäre grob behandlungsfehlerhaft gewesen.
Dieser Befunderhebungsfehler führt zu einer Beweislastumkehr zu Gunsten der Patientin hinsichtlich der Kausalität. Das bedeutet: Nicht die Klägerin muss beweisen, dass ihr Gesundheitsschaden auf dem Behandlungsfehler beruht, sondern der Arzt müsste beweisen, dass die Grunderkrankungen der Nieren zu den gleichen gesundheitlichen Schäden geführt hätte, auch wenn rechtzeitig die notwendigen Befunde erhoben worden wären, so dass eine zeitnahe Behandlung hätte eingeleitet werden können. Dass ist dem Arzt nicht gelungen. Er hätte beweisen müssen, dass es gänzlich unwahrscheinlich gewesen wäre, dass bei rechtzeitiger Befundung eine Heilung oder Besserung eingetreten wäre. Das war nach den Angaben des Sachverständigen allerdings nicht der Fall. Er hat ausgeführt, dass eine Heilung zwischen einem und zehn Prozent wahrscheinlich gewesen wäre. Diese Wahrscheinlichkeit ist nicht besonders hoch, jedoch führt sie nicht dazu, dass eine Heilung gänzlich (!) unwahrscheinlich gewesen wäre. Darauf kommt es entscheidend an.
Die Klägerin hat ein Schmerzensgeld in Höhe von 200.000 € erhalten. Dabei hat das Gericht berücksichtigt, dass nach den erfolglosen Nierentransplantationen die Patientin wieder dialysepflichtig ist. Sie ist wieder auf der Warteliste für eine dritte Operation. Das Gericht hat auch das jugendliche Alter der Patientin berücksichtigt. Sie muss den Großteil ihres Lebens mit dem massiven Lebensbeeinträchtigungen zurecht kommen. Bislang hat sie 53 (!) Operationen über sich ergehen lassen müssen.
In Deutschland gibt es keine Entschädigung für so genannte Drittschäden und auch kein Schmerzensgeld für Angehörige, mit der Ausnahme wenn der Patient stirbt. Außerhalb dieser tragischen Konstellation gehen durch den Behandlungsfehler Geschädigte leer aus. Die Eltern der Patientin, die jeweils eine Niere verloren haben, bekommen kein Schmerzensgeld.
„Hätten die Eltern die Nieren aufgrund eines Behandlungsfehlers oder Verkehrsunfalls verloren, hätte jeder von ihnen mindestens 40.000 € immateriellen Ersatz (Schmerzensgeld) erhalten“, sagt Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht Dr. Lovis Wambach.
Der bekannte Fußballprofi Ivan Klasnic erlitt während seiner Zeit bei Werder Bremen ein ähnliches Schicksal. Auch hier mussten beide Eltern eine Niere spenden, da das erste Transplantat abgestoßen worden ist. In der ersten Instanz vor dem Landgericht Bremen hat Klasnic nach vielen Jahren Prozessdauer gewonnen.
Das Verfahren befindet sich in der Berufungsinstanz vor dem Hanseatischen Oberlandesgericht in Bremen. Eine vergleichsweise Beilegung des Streits war nicht möglich. So werden bis zum Ende des Verfahrens noch viele Jahre vergehen; es scheint nicht ausgeschlossen, dass sich auch der Bundesgerichtshof in Karlsruhe mit diesem Fall noch beschäftigen wird.
Das vollständige Urteil des Oberlandesgerichts Hamm vom 3.7.2015 -26 U 104/14 können Sie sich hier als PDF (52 KB) herunterladen: