In diesem Beschluss des obersten Gremiums des höchsten deutschen Zivilgerichts, den sogenannten Vereinigten Großen Senaten, ging es um einen Fall aus dem Strafrecht, der auch zivilrechtlich relevant ist, also für den Bereich des Arzthaftungsrechts und des Verkehrsrechts.
Opfern von Behandlungs- und Aufklärungsfehlern, Verkehrsunfällen oder Straftaten stehen gegen den Schädiger Ersatz des materiellen aber auch des immateriellen Schadens (Schmerzensgeld) zu.
Das Schmerzensgeld soll dem Geschädigten auch eine Genugtuung verschaffen; in erster Linie soll es aber dazu dienen, dem Geschädigten einen angemessenen Ausgleich seiner Lebensbeeinträchtigungen zu bieten.
Die Höhe des Schmerzensgeldes hängt von zahlreichen Faktoren ab. Besonders entscheidend sind: Das Ausmaß der Schmerzen (Intensität, Dauer, Folgeschäden, Entstellungen, Vermögensverhältnisse des Schädigers und des Geschädigten etc.). Auch der Grad des Verschuldens spielt eine Rolle. Der für einen Ausgleich erforderliche immaterielle Schadensersatz (Schmerzensgeld) hängt in erster Linie von dem Umfang der Schäden ab. Bei der Abwägung steht nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (grundlegend: BGH, Beschluss vom 06.07.1955 – GS 1/55) die erlittene Lebensbeeinträchtigung im Verhältnis zu den anderen zu berücksichtigenden Umständen immer an der Spitze, also auch vor den Vermögensverhältnissen.
Die Berücksichtigung der wirtschaftlichen Verhältnisse bei der Bemessung des Schmerzensgeldes ist bisher von der Rechtsprechung so stiefmütterlich behandelt worden, dass schon manche Juristen glaubten, dieses Kriterium sei aufgegeben worden.
Dass das nicht so ist und auch nicht so sein darf, haben die Vereinigten Großen Senate des Bundesgerichtshofs jetzt klargestellt. Ihnen war vom 2. Strafsenat die Frage vorgelegt worden, ob bei der Bemessung des Schmerzensgeldes auch die wirtschaftlichen Verhältnisse des Schädigers berücksichtigt werden können, ob es im Urteil Feststellungen zu den wirtschaftlichen Verhältnissen bedarf und ob der Einfluss der wirtschaftlichen Situation auf die Bemessung der billigen immateriellen Entschädigung (= angemessenes Schmerzensgeld) in den Urteilsgründen erörtert werden muss. Der 2. Strafsenat wollte dieses Kriterium weder zu Lasten noch zum Vorteil beider Parteien berücksichtigt wissen, also insgesamt auslöschen. Damit wollte er nicht nur von der strafrechtlichen, sondern auch von der zivilrechtlichen Rechtsprechung der anderen Senate und auch des Großen Senats in Zivilsachen abweichen. Aus diesem Grunde musste nicht nur ein Großer Senat entscheiden, der zu Rate gezogen wird, wenn ein Senat des Bundesgerichtshofs gegen dessen Willen von einem anderen Senat abweichen will, sondern die Vereinigten Grossen Senate als höchstes Gremium des Bundesgerichtshofs, § 132 Abs. 2 GVG (s.u.).
Die Vereinigten Großen Senate erkannten: Bei der Ermittlung eines angemessen Schmerzensgeldes können alle Umstände des Falles berücksichtigt werden, auch die wirtschaftlichen Verhältnisse des Schädigers und des Geschädigten können dabei nicht von vornherein ausgeschlossen werden.
Die Verletzung einer armen Partei durch einen vermögenden Schädiger kann also bei einem außergewöhnlichen Gefälle ein bei einer Gesamtbetrachtung des Einzelfalls mit zu berücksichtigender Umstand sein. Werden die wirtschaftlichen Verhältnisse bei der Schmerzensgeldbemessung berücksichtig, dann müssen sich nach der neuen höchstrichterlichen Rechtsprechung des BGH in den Urteilsgründen Feststellungen zu den wirtschaftlichen Verhältnissen beider Teile (Kläger und Beklagter) finden und auch zu dem Einfluss der festgestellten wirtschaftlichen Verhältnisse auf die Bemessung des Schmerzensgeldes, eigentlich logisch.
„Für das Personenschadensrecht liegt die besondere Bedeutung des Beschlusses auch in Folgendem: Der Beschluss der Vereinigten Großen Senate hebt in Randnummer 14 hervor, dass hinsichtlich der Bemessungskriterien für das Schmerzensgeld dem (berühmten) Beschluss des Großen Senats vom 16.07.1955 (GSZ 1/55) auch aus heutiger Sicht nichts hinzuzufügen ist“, sagt Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht Dr. Lovis Wambach, „so dass der Schwerpunkt der Schmerzensgeldbemessung richtig bei den erlittenen Lebensbeeinträchtigungen verbleibt, was überzeugt.“
Den Beschluss der Vereinigten Großen Senate des Bundesgerichtshofs vom 16. September 2016 können Sie hier als PDF (200 KB) herunterladen.
BGH, Vereinigte Große Senate, Beschluss vom 16.09.2016 – VGS 1/16
§ 132 GVG lautet:
(1) Beim Bundesgerichtshof werden ein Großer Senat für Zivilsachen und ein Großer Senat für Strafsachen gebildet. Die Großen Senate bilden die Vereinigten Großen Senate.
(2) Will ein Senat in einer Rechtsfrage von der Entscheidung eines anderen Senats abweichen, so entscheiden der Große Senat für Zivilsachen, wenn ein Zivilsenat von einem anderen Zivilsenat oder von dem Großen Zivilsenat, der Große Senat für Strafsachen, wenn ein Strafsenat von einem anderen Strafsenat oder von dem Großen Senat für Strafsachen, die Vereinigten Großen Senate, wenn ein Zivilsenat von einem Strafsenat oder von dem Großen Senat für Strafsachen oder ein Strafsenat von einem Zivilsenat oder von dem Großen Senat für Zivilsachen oder ein Senat von den Vereinigten Großen Senaten abweichen will.
(3) Eine Vorlage an den Großen Senat oder die Vereinigten Großen Senate ist nur zulässig, wenn der Senat, von dessen Entscheidung abgewichen werden soll, auf Anfrage des erkennenden Senats erklärt hat, daß er an seiner Rechtsauffassung festhält. Kann der Senat, von dessen Entscheidung abgewichen werden soll, wegen einer Änderung des Geschäftsverteilungsplanes mit der Rechtsfrage nicht mehr befaßt werden, tritt der Senat an seine Stelle, der nach dem Geschäftsverteilungsplan für den Fall, in dem abweichend entschieden wurde, zuständig wäre. Über die Anfrage und die Antwort entscheidet der jeweilige Senat durch Beschluß in der für Urteile erforderlichen Besetzung; § 97 Abs. 2 Satz 1 des Steuerberatungsgesetzes und § 74 Abs. 2 Satz 1 der Wirtschaftsprüferordnung bleiben unberührt.
(4) Der erkennende Senat kann eine Frage von grundsätzlicher Bedeutung dem Großen Senat zur Entscheidung vorlegen, wenn das nach seiner Auffassung zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich ist.
(5) Der Große Senat für Zivilsachen besteht aus dem Präsidenten und je einem Mitglied der Zivilsenate, der Große Senate für Strafsachen aus dem Präsidenten und je zwei Mitgliedern der Strafsenate. Legt ein anderer Senat vor oder soll von dessen Entscheidung abgewichen werden, ist auch ein Mitglied dieses Senats im Großen Senat vertreten. Die Vereinigten Großen Senate bestehen aus dem Präsidenten und den Mitgliedern der Großen Senate.
(6) Die Mitglieder und die Vertreter werden durch das Präsidium für ein Geschäftsjahr bestellt. Dies gilt auch für das Mitglied eines anderen Senats nach Absatz 5 Satz 2 und für seinen Vertreter. Den Vorsitz in den Großen Senaten und den Vereinigten Großen Senaten führt der Präsident, bei Verhinderung das dienstälteste Mitglied. Bei Stimmengleichheit gibt die Stimme des Vorsitzenden den Ausschlag.