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Neuer Ansatz zur Bemessung des Schmerzensgeldes: Taggenaue Berechnung

Neuer Ansatz zur Bemessung des Schmerzensgeldes: Taggenaue Berechnung

Fachanwälte für Medizinrecht und Fachanwälte für Verkehrsrecht sind schon seit langem nicht mehr zufrieden mit der Praxis der Schmerzensgeldbemessung im Personenschadensrecht.

Viele Gerichte beten Ersatzbeträge nach, die sie sogenannten Schmerzensgeldtabellen entnehmen, in denen „vergleichbare“ Fälle abgedruckt sind. Mit viel Glück schaffen es manche Gerichte immerhin die Schmerzensgeldbeträge der Geldentwertung (Indexanpassung) und der heutigen Tendenz zu immer höheren Schmerzensgeldern anzupassen. Aber auch dann bleibt das Problem, dass die Fälle aus den Schmerzensgeldtabellen in den allermeisten Fällen nicht oder nur in geringem Maße mit den konkret zu bearbeitenden oder zu entscheidenden Fällen vergleichbar sind.

Das Oberlandesgericht Frankfurt hat mit seinem Urteil vom 18.10.2018 – 22 U 97/16 der Berechnung des Schmerzensgeldes nach den Kriterien des „Handbuchs Schmerzensgeld“ von Hans Peter Schwintowski, Cordula und Michel Schah Sedi den Vorzug gegeben.

Der Senat des Frankfurter OLG hält einen Vergleich mit anderen Gerichtsentscheidungen, sowie auch das Alter des Verletzten und die Dauer der Beeinträchtigung im Wege einer bloß pauschalen Betrachtung für unzureichend, um den Umfang der Beeinträchtigung eines Verletzten gleichmäßig und auch für Geschädigte voraussehbar zu berechnen. Die Erfahrungen des Senats zeigten, dass die Bemessung eines Schmerzensgeldes in geradezu extremer Art und Weise von der persönlichen Situation des erkennenden Richters, den Vorstellungen, die der Rechtsanwalt des Geschädigten äußert und auch von dem Landstrich abhängt, in dem sich das Gericht befindet. Diese Umstände ließen es beispielsweise für die außergerichtliche Rechtsberatung nahezu unmöglich erscheinen, einen tatsächlich angemessenen Betrag zu errechnen, hinsichtlich dessen auch mit einem Klageerfolg gerechnet werden kann. Insbesondere die lange Dauer einer Beeinträchtigung wird oftmals durch die Gerichte unterschätzt, wie sich an vielen Beispielen aus den Schmerzensgeldtabellen erkennen lässt, in denen zwar das Alter der Verletzten dargestellt wird, aber die Dauer der Auswirkungen lediglich in kurzen Andeutungen erkennbar ist, insbesondere keine eigene Kategorie der Bemessung darstellt.

Diesen Worten kann man sich nur anschließen. Das Gericht hat das Problem sehr treffend und anschaulich formuliert.

Zu Recht unternehmen Prof. Dr. Hans Peter Schwintowski und Cordula und Michel Schah Sedi: Handbuch Schmerzensgeld, Köln 2013 einen Vorstoß in die Richtung einer objektivierbaren, nämlich taggenauen Schmerzensgeldbemessung unter Zugrundelegung eines Prozentsatzes des (durchschnittlichen) Bruttonationaleinkommens.

Insbesondere bei Dauerschäden wird die derzeitige Praxis der Schmerzensgeldbemessung weder der im Vordergrund stehenden Ausgleichsfunktion, noch der im Hintergrund stehenden Genugtuungsfunktion gerecht. Bei der Abwägung steht nämlich nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (grundlegend: BGH, Beschluss vom 06.07.1955 – GS 1/55) die erlittene Lebensbeeinträchtigung im Verhältnis zu den anderen zu berücksichtigenden Umständen immer an der Spitze.

Die Rechtsprechung bildet zurzeit die von § 253 Abs. 2 BGB geforderte „billige Entschädigung“ in Geld nicht ab, jedenfalls nicht in dem Sinne, wie Juristen das Wort billig verstehen, nämlich nicht als preiswert, sondern als gerecht.

Erst die taggenaue Umrechnung bringt nämlich an den Tag, wie preiswert schwerste Körperschäden abverkauft werden. „Die Schmerzensgelder sind bei taggenauer Bemessung so niedrig, dass die Verletzung der Menschenwürde geradezu mit Händen zu greifen ist – in einer Vielzahl von Fällen mit schwerwiegenden, lebenslang andauernden Schäden erscheinen die Schmerzensgelder der Höhe nach geradezu „zynisch“ (Schwintowski, Schah Sedi, Seite 18).“

Berechnet man beispielsweise nach der statistischen Lebenserwartung eines etwa dreißig Jahre alten Geschädigten mit einer inkompletten Querschnittlähmung aufgrund eines Behandlungsfehlers oder Verkehrsunfalls, den „Wert“ des immateriellen Ersatzes, dann offenbart sich die Problematik. Nehmen wir an, dass der Geschädigte zum „Ausgleich“ für diese Schädigung von einem Gericht einen Schmerzensgeldbetrag von 120.000,- Euro zugesprochen bekommen hat. Diesen Betrag auf den Tag umgerechnet ergibt: statistisch verbleiben etwa 17.700 Tage (48,55 Jahre x 365 Tage) auf dieser Welt. Das ergibt pro Tag eine Entschädigung in Höhe von 6,78 Euro.

Diesen Betrag kann ein billig und gerecht Denkender wohl kaum ernsthaft als Ausgleich dafür ansehen, dass der Geschädigte aufgrund seiner Querschnittlähmung, und sei sie auch inkomplett, mit jedem Schritt hinkt, ab einer Strecke von 20 Meter, einen Rollator oder Rollstuhl benutzen muss und seinen Beruf verloren hat, keinen Sport mehr treiben kann und insgesamt seine Lebensaufgabe verloren hat.

Berechnet man taggenau nach 7 Prozent des Bruttonationaleinkommens (siehe zur Berechnungsmethode im Urteil ab Seite 23) dann ergibt sich bei taggenauer Berechnung (ohne Zuschläge und Abschläge) 186,91 Euro (= 7 % des Bruttonationaleinkommens) ein Betrag in Höhe von Euro für den Dauerschaden 3.308.307 Euro (100%). Die Höhe des Tagessatzes wird maßgeblich bestimmt vom Grad des individuellen GdS (Grad der Schädigungsfolgen), so wie er in Teil B der Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizinverordnung bereits über Jahrzehnte bestimmt wird. Danach sind etwa 30 Prozent Dauerfolgen plausibel, mithin: 992.492,- Euro. Hinzu kommen die höheren Abschläge für Intensivstation, Normalstation und Reha (siehe Seite 23f. des Urteils). Insgesamt kann man also von Rund 1.000.000 Euro ausgehen, also das über Achtfache.

In dem vom OLG zu entscheidenden Fall hatte das Landgericht das Schmerzensgeld (für eine Radiusmehrfachfraktur links, eine HWS-Distorsion, eine Bauchwandprellung und Sensibilitätsstörungen im Bereich der Finger) aufgrund der vom Kläger eingereichten Unterlagen auf 5.500,- Euro geschätzt. Das Oberlandesgericht hat dann unter Zugrundelegung der konkreten taggenauen Berechnung weitere 6000,- Euro (also insgesamt 11.500,- Euro) zugesprochen, somit mehr als das Doppelte.

„Die Anwendung der taggenauen Schmerzensgeldbemessung wird dazu führen, dass für leichte Verletzungen weniger Schmerzensgeld, für schwere aber sehr viel mehr Schmerzensgeld zugesprochen wird“, sagt Rechtsanwalt und Fachanwalt für Verkehrsrecht Rouven Walter.

„Bei konsequenter Anwendung der neuen Berechnungsmethode bekommen jüngere Schwerstgeschädigte (mit Dauerschaden) zusammengerechnet (nicht pro Tag!) sehr viel mehr Schmerzensgeld als ältere Geschädigte“, sagt Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht Dr. Lovis Wambach, „sie leiden ja auch ein Leben lang unter den schwerwiegenden Lebensbeeinträchtigungen.“

Es handelt sich um ein insgesamt sehr interessantes Urteil, dessen Ausführungen zum Feststellungsantrag für Zukunftsschäden sich auf die neueste Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs stützen (BGH, Urteil vom 17.10.2017 – VI ZR 423/16).

Auch die Ausführungen zum Haushaltsführungsschaden überzeugen.

Das Gericht wendet das im letzten Jahr erschienene moderne Tabellenwerk „Praxishandbuch Haushaltsführungsschaden: Tabellen und Berechnungshilfen“ (Bonn 2017) von Cordula Schah Sedi, Fachanwältin für Verkehrsrecht sowie öffentlich bestellte und vereidigte Sachverständige für die Ermittlung des Haushaltsführungsschadens, an. Das ist – neben der taggenauen Berechnung des immateriellen Schadens – ein Markstein des Urteils.

Unsere Besprechung der Entscheidung hinsichtlich des Haushaltsführungsschadens in der Deutschen Autorecht können Sie hier als PDF-Datei herunterladen:

Lovis Wambach, Rouven Walter: Anmerkung zu OLG Frankfurt v. 18.10.2018 – 22 97/16, DAR 01 2019, S. 43f.

Das vollständige Urteil des Oberlandesgerichts Frankfurt vom 18.10.2018 – 22 97/16 können Sie hier als PDF (172 KB) herunterladen:

OLG Frankfurt, Urteil v. 18.10.2018 – 22 97/16

 

Nachtrag Februar 2022:

Der Bundesgerichtshof hat leider den Ansatz des taggenauen Schmerzensgeldes verworfen und festgestellt: „Maßgebend für die Höhe des Schmerzensgeldes sind im Wesentlichen die Schwere der Verletzungen, das durch diese bedingte Leiden, dessen Dauer, das Ausmaß der Wahrnehmung der Beeinträchtigung durch den Verletzten und der Grad des Verschuldens des Schädigers. Dabei geht es nicht um eine isolierte Schau auf einzelne Umstände des Falles, sondern um eine Gesamtbetrachtung aller Umstände des Einzelfalls. Dabei ist in erster Linie die Höhe und das Maß der entstandenen Lebensbeeinträchtigung zu berücksichtigen. Auf der Grundlage dieser Gesamtbetrachtung ist eine einheitliche Entschädigung für das sich insgesamt darbietende Schadensbild festzusetzen, die sich jedoch nicht streng rechnerisch ermitteln lässt.“ (BGH, Urteil vom 15. Februar 2022 – VI ZR 937/20).

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